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Lächelnde Gesichter hinter Plexiglas

Gestern war ein sehr besonderer Tag für mich. Nach einem Dreivierteljahr durfte ich das erste Mal wieder in einer Senioreneinrichtung singen. Es war eine kleine Demenz-WG. Das freute mich besonders.

Als die Leiterin der Einrichtung anrief um zu buchen, fragte ich, ob es bei ihnen denn schon wieder erlaubt sei zu singen. In den meisten Senioreneinrichtungen in Deutschland bedeuteten und bedeuten die Coronaschutzmaßnahmen ein Verbot zu singen. Das ist ein Thema, was mich schon lange beschäftigt und echt traurig macht.

Viele Leute, die mit Menschen mit Demenz zu tun haben, wissen wie wichtig Musik und singen als Brücke zu den Menschen ist.

Vor allem bei fortgeschrittnerer Demenz ist Musik und singen oft eine der ganz, ganz wenigen Brücken, die noch funktioniert. Menschen haben sich schon oft mit singen selbst gerettet. Meine Oma erzählte ganz oft: „Wir haben früher immer und überall gesungen. Bei der Arbeit, auf dem langen Fußweg zu Schule, wenn’s eine Feier gab…“ Die Soldaten im zweiten Weltkrieg sangen im Einsatz. Nicht nur, wenn’s um‘s feiern ging, sondern auch, wenn’s Leid und Schmerz gab, wurde gesungen. Ich glaube, das hat den Menschen sehr geholfen.

Die Leiterin der Einrichtung erzählte mir, dass sie schon ganz zu Anfang der Coronazeit eine große, rollbare Plexiglasscheibe gekauft hatten. Dahinter durfte ich nun gestern singen. Natürlich nicht ohne den vorherigen Corona-Test im Eingangsbereich. Ich merkte, wie mir der sonst etwas unangenehme Nasen-Rachentest nichts mehr ausmachte. Selbst mein Auge tränte dieses Mal nicht. Ich sagte das der Mitarbeiterin und lobte sie für ihr Können. Sie meinte, das hätte sie schon öfter gehört und strahlte dabei. 

Und dann war es endlich so weit. Eine kleine Gruppe von 14 Leuten saß vor mir. Einige schauten mich erwartungsvoll an, andere schienen komplett in ihrer eigenen Welt versunken. Nach dem ersten Lied „Einmal am Rhein“ wurden sie etwas munterer. Eine Frau fragte:

„Sind Sie ne Rheinländische?“ Ich lachte: „Nein, ich bin Westfälin.“

„Ich komme aus Oelde/Ennigerloh. – In Innigerlau da liegt der Deubel up Strau!“ Sie lachten. Es war so schön! Wir sangen gemeinsam die alten Schlager und ich durfte wieder beobachten, wie sie immer wacher und munterer wurden. Die Augen gingen auf und sie waren plötzlich wieder hier bei uns und nicht weit weg in ihrer eigenen Welt. Es gab Verbindung und Freude und auch ein kleiner Streit, weil eine Bewohnerin sich beim schunkeln und klatschen so weit vor lehnte, dass ihre Nachbarin nichts mehr sehen konnte. 

Im Winter wollte ich alles hinschmeißen. Ich sah keine Perspektive mehr für mich im Senioren- und Demenzbereich. Ich überlegte, gar nicht mehr mit Menschen zu arbeiten und zur Tischlerin umzuschulen. Wer weiß? Vielleicht mache ich das eines Tages auch. Aber heute noch nicht. Heute genieße ich den Nachklang der schönen Stunden gestern. 

Und irgendwann wieder hoffentlich so wie auf dem Foto… 💚