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Ein sicherer Ort

Die Frau sprach am Telefon von schweren Zeiten und von großer Sehnsucht. Sie sprach von einer großen Sehnsucht nach den Pferden, die sie schon seit ihrer Kindheit spürt, der sie aber nie richtig nachgegangen ist. Ihre Eltern hielten Pferde für gefährlich und so blieb es dabei. Bis gestern. 

Wir liefen gemeinsam ein Stück die Wiese rauf. Es redet sich oft viel leichter in Bewegung. Nach einer Weile zuhören wird mir klar, wie viel Kraft es die Frau wohl gekostet haben muss, zu uns zu kommen – ihren sicheren Ort zu verlassen. Das sage ich auch und ich sage ihr auch, wie mutig ich das finde. Wir bleiben stehen und eins der Pferde gesellt sich zu uns. Nachdem Vito höflich gefragt hat, ob keine von uns ein Leckerli für ihn dabei hat, stellt er sich neben die Frau. Er macht scheinbar gar nichts, steht nur ruhig da, als würde er zuhören. Er tut genau das, was uns Menschen oft so schwer fällt. – Da sein. Ohne etwas zu tun oder tun zu wollen.

Ich kann das nicht so gut, wie er. Ich merke, wie mein Kopf immer wieder anspringt und nach Lösungen und guten Ideen sucht. Dabei ist mein Kopf im Moment gar nicht gefragt. Mein Herz und mein Gefühl sind gefragt. Aber Hilflosigkeit fühlt sich nicht gut an. Es fühlt sich nach Kontrollverlust an. Und das wollen wir doch immer alle am liebsten: Etwas machen! Damit wir alles wieder unter Kontrolle haben.

Die Frau entspannt sich in Vitos Nähe immer mehr. Ich mich auch. Während wir weiterreden, sinkt Vitos Kopf immer tiefer und seine Augen werden kleiner. Er schläft fast im Stehen. Danke, du Guter, für dein Dasein und deine Nähe. Danke, dass du uns einen sicheren Ort gezaubert hast.

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Frau Müller oder: Die Queen von Münster

„Hallo, mein Name ist Müller. Ich möchte bei Ihnen Reittherapie buchen.“ – Es ist erst wenige Wochen her, dass ich diesen Anruf bekam. Ich weiß noch, dass ich sofort an der Stimme der Frau erkannte, dass sie älter sein musste. Frau Müller wusste genau, was sie wollte. Sie hatte vor 2 Jahren einen schweren Fahrradunfall gehabt und wollte unbedingt wieder Fahrrad fahren. Um ihre Balance zu schulen, als Vorbereitung für das Radfahren, wollte sie reiten. Ich war ein bisschen überrumpelt von ihrer resoluten und klaren Art und fragte: „Sind Sie schonmal geritten?“ „Ja, einmal mit 10 und einmal mit 80 Jahren.“ Ich lachte und dachte: ‚Diese Frau musst du kennenlernen.‘ 

Frau Müller ist eine kleine, zarte Frau, die schon viel erlebt hat in ihrem langen Leben.

Jahrelang pflegte sie ihren Mann, der an Demenz erkrankt war. Nach dem Tod ihres Mannes wollte sie dann noch selbst etwas erleben und etwas für sich tun. Sehr offen erzählte sie mir von ihrer Psyche und dass sie gut auf sich achten müsste. Und davon, dass sie die Alexander-Technik für sich entdeckt hat und dass ihr Trainer ihr großes Vorbild geworden sei. 

In der ersten Reittherapieeinheit putzten wir gemeinsam Jenny. Die erste Aufgabe, die alle immer als Erstes bei mir bekommen, ist die Lieblingskraulstellen von Jenny zu finden. Frau Müller gefiel es bei uns und gleichzeitig bemerkte ich ihre Ungeduld. Sie wollte reiten. Doch vor der nächsten Einheit merkte ich, dass ich Angst hatte.

‚Was, wenn mir Frau Müller vom Pferd fiel? Ältere Menschen brechen sich ja sehr schnell etwas.’ Ich überlegte und wägte ab.

Und dann machte ich etwas, was mir selbst noch manchmal komisch vorkommt: Ich redete gedanklich mit Jenny. Ich erzählte ihr von meinen Ängsten und bat sie um Hilfe. Irgendetwas veränderte sich. Ich wurde auf einmal wieder sicherer, in dem was ich tat. – Ich vertraute mir und ich vertraute Jenny. Und alles ging wunderbar. Seitdem trägt Jenny Frau Müller jede Woche ein paar Runden. Dabei setzt sie ihre Hufe sehr vorsichtig und langsam und ich bin mir ganz sicher, dass sie auf ihre Reiterin aufpasst. Weil sie immer tut.

Und Frau Müller?

Die kleine, zarte Frau Müller verwandelt sich mit Jennys Hilfe Woche für Woche in die Queen von Münster.

Zuerst machen sich die Beiden gemeinsam warm. Frau Müller führt Jenny mittlerweile allein. Ihr „kam-sah-und-siegte-Gang“ wird immer selbstverständlicher. Zwischendurch blitzt sogar ein kleines, stolzes Lächeln bei ihr auf. Wenn sie dann auf Jenny reitet, ist sie total stolz. Ich frage: „Frau Müller, was sagen eigentlich Ihre Kinder dazu, dass Sie reiten?“ „Die sind total begeistert, was ich noch für tolle Sachen mache.“ Ja, kein Wunder! Ich bin auch total begeistert. Und sehr dankbar, für so mutige und inspirierende Menschen in meinem Leben!